Oliviers Gespür für Holz

Es war ein grauer Herbsttag, als ich ihn zum ersten Mal sah. Im Augenwinkel registrierte ich eine hagere, gebückte Gestalt im Unterholz. Ein Obdachloser, der sich einen Unterstand baut, schoss es mir durch den Kopf. Mir wurde mulmig und ich beschleunigte meinen Schritt. Von da an begegnete ich ihm regelmäßig, sein Refugium lag direkt neben meiner Lauftrecke in einem Wäldchen, gleich hinter dem Eingang zum Treptower Park. Ein schmaler Pfad führte dorthin. Ihn selbst sah ich nur schemenhaft, manchmal hörte ich ein Klopfen, das Rascheln einer Plane. Nie traute ich mich, genauer hinzuschauen, immer rannte ich mit starrem Blick vorbei, meist raste mein Puls. Schnell durch die Bäume ans Licht, an den Karpfenteich.

Baumkunst von Olivier Jaffrot

Drachen mit fliegendem Haar

Als in den Corona-Jahren das Spazierengehen zur Obsession wurde, traute ich mich eines Tages mit einer Freundin, den schmalen Weg in den Wald einzuschlagen. Nach wenigen Metern erreichten wir eine kleine Lichtung und standen plötzlich vor einer filigran geschnitzten Holzskulptur. Fließende Formen, Wogen, Wellen, Kerben, die dem toten Holz auf wundersame Weise Leben einhauchten. Aus einem alten Baumstumpf wuchs ein mystisches Wesen, ein Oktopus, ein Drachen mit fliegendem Haar, ein fabelhaftes Kunstwerk. Die glatt polierten Flächen und Strukturen schrien danach, berührt zu werden. Um jedes Astloch, jeden Knubbel formte sich ein anderes Gesicht. Nur ein Steinwurf entfernt schlängelte sich ein ganzer Baumstamm durch das Laub, mit Höckern und Finnen wie der Schwanz eines urzeitlichen Reptils. Wie unrecht hatte ich dem Schöpfer dieser Kunstwerke getan.

Baumkunst von Olivier Jaffrot

Ich begann zu recherchieren und stieß auf einen Artikel, der ihn portraitierten: Olivier Jaffrot, Baumkünstler, sesshaft in Neukölln, geboren in einem französischen Alpendorf. Dem Pressebericht zufolge war er durch den Verkauf einer Immobilie zu etwas Geld gekommen. Doch selbst Neukölln ist inzwischen ein teures Pflaster. Als die Miete für ein größeres Atelier zu teuer wurde, verlegte Jaffrot seine Werkstatt in den Park, vor mehr als zehn Jahren war das.

Auch später besuchte ich seine Open-Air-Galerie ab und zu. Wir trafen uns nie, ich legte es nicht darauf an. Erst im letzten Jahr wurde Jaffrot plötzlich sichtbar. Ein sanfter Mann mit freundlichen Fältchen im wettergegerbten Gesicht, das grau gesträhnte Haar zu einem Knoten am Hinterkopf gebunden. Der Künstler hatte einen neuen Ort gefunden, diesmal am westlichen Ufer des Sees, beinahe prominent neben dem breiten Parkweg. Der Welt abgewandt blieb er weiter, trug einen schwarzen Kopfhörer und vermied jeden Blickkontakt. Es dauerte Monate, bis ich ihn besuchte.

Baumkunst von Olivier Jaffrot

Das Holz gibt die Bewegung vor

Konzentriert arbeitet Jaffrot an einem ausladenden Baumstumpf, dessen knorrige Wurzeln er freigelegt hat. Sein Stechbeitel folgt einer unsichtbaren Führung, das Holz scheint die Bewegung vorzugeben. Er streicht mit dem Finger prüfend durch eine Kerbe und setzt das Werkzeug wieder an. Es ist seine fünfte Skulptur im Park, Metamorphosen 5. Die ersten beiden sind schon fast verschwunden, von der Natur zurückerobert, durch Vandalismus zerstört ‒ das Werden und Vergehen scheint dieser Kunst eingeschrieben. Er selbst verortet sie zwischen Land Art und Street Art – so vergänglich wie die eine, so illegal wie die andere. Von den Parkwärtern wird er offenbar toleriert.

Jaffrots Material sind die Reste toter Bäume, die vom Sturm umgerissen oder von Baumpflegern gefällt wurden, weil sie krank waren. Über die Jahre ist er selbst Teil des Parks geworden. Viele Passanten werfen nur einen verstohlenen Blick auf seine Arbeit und eilen weiter mit der Berlin-typischen Gleichgültigkeit. Nur ein kleines Mädchen bringt ihr Kinderfahrrad so abrupt zum Stehen, dass die Reifen auf dem Rollsplit gefährlich ins Rutschen geraten. Die Kleine starrt mit offenem Mund – es ist nicht auszumachen, was ihre Aufmerksamkeit mehr fesselt, die Baumkunst oder der Künstler selbst. Eine gewisse Ehrfurcht im Blick, trägt sie den Euro, den ihr Vater ihr in die Hand drückt, zu Jaffrots Werkzeugkiste, die er neben sich aufgebaut hat.

Baumkunst von Olivier Jaffrot

Was Jaffrot sich wünscht? Ich nehme an, nichts sehnlicher als einfach weiterzumachen. Für alle, die sich bei ihm für seine Kunst bedanken wollen, hat er eine Website eingerichtet.

Merci, Olivier Jaffrot!

Hin und weg: Zu Fuß oder mit dem Fahrrad vom S-Bahnhof Plänterwald in Richtung Karpfenteich.

Zur Website von Olivier Jaffrot: https://art-insitu.org/

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