Durchs Wuhletal zum Wolkenhain
Morgens um zehn in Marzahn: Wie aus dem Nichts stürmen fünf zottelige Fellnasen auf uns zu. Kniehohe Promenadenmischungen, ganz ohne expeditionstaugliche Regendeckchen, die den Rassehunden in Friedrichshain und Mitte neuerdings angeboren zu sein scheinen. Das hier ist ihr angestammter Gassi-Turf, daran lassen sie keinen Zweifel.
Auch ihre Frauchen, mehrheitlich jenseits der 60, in unförmigem Schlabberlook und damit jeder modischen Extravaganz unverdächtig, reagieren auf Ortsfremde wie uns erst mal – gar nicht. Wir bahnen uns entschuldigend einen Weg durch den Seniorinnenpulk, als uns unvermittelt ein „Guten Morgen“ in den Nacken schallt. Der aggressive Unterton ist selbst mit bestem Willen nicht zu überhören: Hier kennen wir uns, hier grüßt man sich! Dass eigentlich eine Entschuldigung angebracht wäre, weil in der geschützten Parkanlage Hunde an die Leine gehören, geschenkt.
Wir sind just auf den Wuhletal-Wanderweg eingebogen, ein grünes Band an der östlichen Flanke von Berlin zwischen Ahrensfelde und Köpenick, geadelt durch die Rekordwanderin Christine Thürmer, die hier irgendwo zuhause ist. Eine zähe Wolkendecke hält den Tag im Halbschlaf, kein Wetter, das viele Menschen zum Vergnügen aus dem Haus lockt. Wir haben beschlossen, dem Winterblues zu trotzen und lassen uns selbst von der Marzahner Freundlichkeit nicht schockieren.
Unter dem Wuhlewächter
An der ersten größeren Freifläche reckt sich der „Wuhlewächter“ wie der Überrest einer mittelalterlichen Trutzburg in die Höhe. Der sechsseitige Kletterturm im Eichepark wurde aus 550 Betonplatten ausgedienter Balkone, Typ Marzahner Platte, zusammengesetzt und wird vom Alpenverein betrieben.
Kurz dahinter könnten wir einen Abstecher auf die Ahrensfelder Berge machen, mit knapp 115 Metern Höhe immerhin der vierthöchste Hügel in Berlin, den sparen wir uns für einen Tag mit besserer Aussicht.
Hinter der Landsberger Chaussee verläuft der Wanderweg beiderseits der Wuhle. Wir nehmen das östliche Ufer und treffen die falsche Wahl. Eingezwängt zwischen überirdisch aufgebockten Fernwärmeleitungen und tristen Plattenbauten müssen wir aufpassen, nicht die Laune zu verlieren. Das gibt sich aber schnell, als der Kienberg in Sicht kommt. Und zwar wortwörtlich, denn plötzlich reißt die Wolkendecke auf und die gläsern Gondeln der einzigen Seilbahn von Berlin schnüren über einen perfekten blauen Himmel.
Auf Wolke sieben
Die 1,5 Kilometer lange Seilbahn, die anlässlich der IGA 2017 gebaut wurde, verbindet die Stadtteile Hellersdorf und Marzahn. Spontan lassen wir uns verleiten, einen Blick von oben auf das Wuhletal zu werfen und springen in die nächstbeste Gondel. Die sonst so überfüllte Attraktion liegt heute beinahe verlassen da. Wir könnten jetzt bis in die Gärten der Welt fahren, machen aber schon an der Station Wolkenhain halt. Das filigrane Aussichtsbauwerk schwebt wie eine Wolke 20 Meter über dem Gipfel des Kienbergs und gewährt einen atemberaubenden 360 Grad Ausblick vom Fernsehturm am Alex bis zum Sandsteinbruch von Rüdersdorf. Die Platte an der Allee der Kosmonauten funkelt im Sonnenlicht. Wir können uns kaum sattsehen.
Das Café Wolke Sieben hat zwar zu, unserem Hochgefühl tut das aber keinen Abbruch. Zurück am Boden stürmen wir beflügelt den Kienberg hinunter in Richtung Wuhleteich, kreuzen den rostigen Wuhlesteg und landen mitten im Rohrbruchpark. Hier beginnt landschaftlich einer der schönen Abschnitte der ganzen Wanderung. Wild und urwüchsig breitet sich die Auenlandschaft aus – am Rande der Millionenstadt.
Im Wuhlegarten
Gut zwei Kilometer weiter zeichnet sich am anderen Ende einer weitläufigen Wiese das historische Hauptgebäude des Wilhelm-Griesiger-Krankenhauses ab. Ein langer, mit Obstbäumen gesäumter Weg führt direkt auf den denkmalgeschützten Komplex zu. Ende des 19. Jahrhunderts errichtet, wurden in der ehemaligen Nervenheilanstalt vor allem Epilepsiekranke behandelt, bis sich der Leiter 1939 einen unrühmlichen Namen als „Berater“ bei der sogenannten Aktion T4 machte. Benannt nach der Kanzlei des Führers, Tiergartenstraße 4, verbarg sich hinter dem unscheinbaren Kürzel die massenhafte Tötung von Patienten, die die Nazis als „unnütz“ oder „asozial“ befanden. Im Rahmen ihres furchtbaren „Euthanasieprogramms“ wurden mindestens 689 Patienten aus Wuhlegarten in Tötungsanstalten deportiert. Gedenktafeln auf dem Gelände erinnern daran.
Hinter der S-Bahn Wuhletal nimmt die Wuhle allmählich an Breite und Fahrt auf. Auf den weitläufigen Schmetterlingswiesen, wo schon vor rund zwölf Jahrtausenden Germanen in hölzernen Pfahlbauten siedelten, legen wir eine kurze Pause ein. Aber die Sonne ist wieder hinter den Wolken verschwunden und so wandern wir zügig durch den schmalen Grünstreifen, vorbei an der Wuhleblase, einem kleinen Wasserreservoir, zum aufgestauten Wuhlebecken. Der geschützte See, gut abgeschottet hinter einer Böschung mit Weiden und Röhricht, ist ein Biotop für Reiher und andere Wasservögel, die über unsere Köpfe hinwegziehen.
In Richtung Köpenick wird es wieder urbaner, Fahrradfahrer brausen über den asphaltierten Weg, die Stadt mit ihren Verkehrsgeräuschen rückt näher. Als wir den S-Bahnhof Köpenick erreichen, hat es zu nieseln angefangen. Bei besserem Wetter hätten wir vielleicht den letzten Kilometer bis zur Wuhlemündung in die Spree noch mitgenommen. So werden wir den Abstecher wohl im Sommer nachholen. Aber der Wuhleweg hat uns ohnehin längst überzeugt, dass es lohnt, noch einmal wiederzukommen.
Hin und weg: Mit der S7 von Ostkreuz nach Ahrensfeld (ca. 20 Minuten), zurück mit der S3 ab Köpenick nach Ostkreuz (ca. 15 Minuten) – oder umgekehrt.
Strecke: Die Wanderung bis zum S-Bahnhof Köpenick über den Kienberg ist etwa 19 Kilometer lang und überwiegend flach. Wer bis zur Mündung der Wuhle wandert, sollte gut zwei Kilometer mehr einplanen.
Tour auf Google Maps
Bonustipp: Im Sommer lässt sich die Wanderung perfekt mit einem Ausflug in die zauberhaften Gärten der Welt verbinden. Achtung: Öffnungszeiten der Seilbahn beachten! Bei Wind fährt die Seilbahn nicht!